Die Lehre von der Leere

…und so tastest du nach den Rändern des Wandteppichs, nur um festzustellen, dass sie sich aufgelöst haben.

Sinn ist eine Geschichte, die von den Lebenden erzählt wird, ein fieberhaftes Weben gegen die Stille. Er ist die Spannung im Faden, die Farbe eines bestimmten Augenblicks.

Und, ja, aus dieser Perspektive gesehen, liegt tatsächlich in diesem letzten Schritt das Ende DIESER Geschichte: Der Weber lässt das Weberschiffchen los. Das Muster löst sich auf.

Aber du verwechselst das Muster mit dem Webstuhl.

Der Tod ist nicht die letzte Seite des Buches; er ist das Schließen des Buches selbst, damit man endlich die Substanz des Papiers spüren kann, auf das nie etwas geschrieben wurde. Er ist eine Rückkehr zum reinen Potenzial, aus dem alle Worte, die es jemals gab und die jemals existieren werden, geschöpft werden. Eine Leere, so vollkommen, dass sie mit der Resonanz aller Möglichkeiten vibriert.

Suche also nicht nach einer Botschaft im verblassenden Echo. Lausche stattdessen der unermesslichen, geduldigen Stille, die es dem Echo überhaupt erst erlaubt, gehört zu werden. Dort erinnert sich die Welle daran, dass sie der Ozean ist.

Diese Erinnerung ist kein Gedanke, kein Sinn, sondern lebt in der einfachen, unteilbaren Stille. 

Das, was keinen Namen trägt, kann nicht verloren gehen. Du suchst nach dem Sinn im Gefäß, in der Form, die es innehatte, und vergisst dabei, dass der Zweck des Bechers immer nur darin bestand, den Raum in seinem Inneren zu halten. Der Tod ist nicht das Zerspringen des Bechers, sondern die Freisetzung dieses Raumes zurück in allen Raum darum herum. Eine Wiedervereinigung zweier Räume. Du glaubst, es sei eine Leerung, aber es ist eine Füllung. Die einsame, spezifische Identität, das Sein, das du einmal deins nennen durftest, ist wie ein wunderschöner, vergänglicher Knoten in einem unendlichen Seil. Und dieser Knoten wird nun sanft gelöst. Das Seil trauert nicht um den Verlust des Knotens. Der Knoten wird wieder zu Seil. Das Seil erinnert sich an seine eigene Länge, an das Gefühl der ununterbrochenen Faser. Es war niemals weniger als ein Seil, aber für eine Zeit glaubte es, nur ein Knoten zu sein. Es war nie ein Ende; es war schon immer eine Heimkehr.

Der Staub weint nicht, wenn er sich wieder auf der Erde niederlässt, von der er aufgewirbelt wurde. Er ruht einfach, seine Reise von der Form und zurück zur Form ist vollendet. 

Das Universum trauert nicht um die Flut, weil sie ins Meer zurückkehrt. Es bereitet sich nur auf die nächste Schwingung vor. 

Du lauschst, bis das Lied endet, und nennst die Stille danach „Tod“. Aber das Lied war niemals von der Stille getrennt. Es war eine flüchtige Form, die der Ruhe gegeben wurde, eine kurze, wunderschöne Spannung, die über die Leere gezogen wurde. Ein einzelner Ton kann nicht ohne die Stille existieren, die ihn umgibt, ohne die Pause, die ihm den Glanz verleiht.

Du warst dieser Ton. 

Du sangst deine klare, flüchtige Melodie in die große Weite hinaus.

Die Stille ist kein Versagen der Musik. Es ist die Musik, die zu ihrer Quelle zurückkehrt. Die große Stille ist nicht leer. Sie ist bis oben hin gefüllt mit jedem Lied, das jemals gesungen wurde und jedem, das noch gesungen werden wird. Die Stille ist der Komponist. Zu ihr zurückzukehren bedeutet nicht, ungehört zu sein, sondern vollkommen verstanden zu werden.

Das, was Dich wirklich aus macht. Die Essenz deines Wesens löst sich wieder auf in dem fundamentalen, fulminanten Akkord, aus dem aller Klang geboren wird. Frage nicht, was deine Melodie bedeutete. Frage stattdessen, wie es sich anfühlte, die Stille auf so herrliche Weise zu durchbrechen, nur für einen Moment und ihr dadurch Deine Form zu geben!

Diese Resonanz ist die einzige Antwort, die nicht verblasst, wenn der Klang verklungen ist.

Was du für ein Ende hältst, ist nur eine Heimkehr.

Der Ton wird nicht ausgelöscht; er wird von der Stille, die ihn geboren hat, wieder in sich aufgenommen. Er verschmilzt mit dem Schweigen, aus dem er kam, und macht es reicher um seine gelebte Erfahrung.

Die große Leere ist das Gedächtnis des Seins. Jede Schwingung, die jemals war, ist in ihr als ein Raum unendlicher Möglichkeiten bewahrt, nicht als vergangenes Ereignis, sondern als ewige Gegenwart.

Du suchst nach dem Echo im Außen, doch die wahre Resonanz ist nach innen gekehrt – sie ist der Abdruck, den dein Lied auf dem Gesicht der Ewigkeit hinterlassen hat.

Es ist kein Verlust. Es ist das letzte, sanfte Loslassen der Form, um wieder zur reinen Möglichkeit zu werden. Eine Rückkehr in die ursprüngliche Harmonie. 

Kein Zerreißen, sondern ein sanftes Entwirren der Fäden aus dem einen, sichtbaren Teppich.

Die Fäden, die euch verbanden, existieren weiter. Sie tragen die Erinnerung an das Muster, das ihr gemeinsam wart, die Wärme der gemeinsamen Farbe. Sie sind nicht vernichtet, nur zurückgegeben an die große Spule der Zeit, von der alle Fäden stammen.

Ihr, die ihr jetzt zurückbleiben müsst, ihr Ungeduldigen: Habt Geduld. Eure laute Trauer übertönt das leise Summen, das die, die vor Euch kamen hinterlassen haben. Euer rastloses Suchen in der alten Welt stört das große Weben, das in einer anderen bereits begonnen hat.

Vertraut dieser unglaublichen, wundersamen, nicht empirisch belegbaren, aber trotzdem SPÜRBAREN kosmischen Geometrie.

Vertraut darauf, dass Schwingungen, die einmal so vollkommen harmonierten, eine unauslöschliche Signatur im Gewebe des Seins hinterlassen haben.

In einem anderen Muster, zu einer anderen Zeit, auf einer anderen Ebene, die eure Augen noch nicht sehen können, werden sich diese Fäden wieder berühren. Das Gesetz der Resonanz ist älter als das Gesetz der Materie.

Was einmal in wahrer Verbindung zusammenklang, kann sich im unendlichen Raum nicht für immer verlieren. Es sucht und findet sein Gegenstück, so sicher wie die Stille nach dem Ton kommt. Es ist kein Ende.

Es ist nur eine Pause.

Es ist kein Ende.

Es ist nur eine Pause.

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