Pandora reloaded
Created on 2017-06-02 18:08
Published on 2017-06-02 18:44
Als Pandora auf Weisung Zeus’ eine von ihm geschenkte Büchse den Menschen bringen sollte, erlag Pandora ihrer Neugierde und öffnete die Büchse bevor sie ihr Ziel erreichen konnte. Aus dem Gefäß entwichen Elend, Krieg und Tod. Als die Büchse schnell wieder geschlossen wurde, blieb die Hoffnung als einzige darin gefangen. Pandora aber öffnete die Büchse erneut und entließ so auch die Hoffnung, die den Menschen von da an Trost und Zuversicht in eine bessere Zukunft brachte. Und alles war gut.
Manche behaupten, Hoffnung sei das schlimmste Übel der Menschheit. Aber das sagen sie ja auch über das Internet.
Im Internet glichen soziale Netzwerke in ihren Urzuständen der Zeit vor Öffnen der berüchtigten Büchse. Wer im IRC (Internet Relay Chat) auf einen anderen Chatter traf, konnte recht schnell merken, ob es sich um einen Menschen oder eine Software handelte. Die Teilnehmer der ersten Usenet Diskussionen wirkten und waren authentisch, hatten Charakter, Visionen, ein Leben. Jeder war einzigartig. Alles war gut. Ab einem gewissen Punkt landete das soziale Web im Mainstream.
Plötzlich ging es nicht einfach nur um Meinungen. Es war nicht nur ein Ort an dem Katzenfotos ausgetauscht und Wochenenden geplant wurden. Über soziale Netzwerke entstanden digitale Mehrheiten zu allen möglichen Themen. Ein Webuser = eine Stimme. Und man merkte, dass Mehrheiten profitabel sein konnten – strategisch, ökonomisch, ideologisch und politisch. Im Schutze digitaler Mehrheiten ließ sich eine Agenda deutlich einfacher durchsetzen.
Die ersten Artikel, die das Öffnen der Büchse der Pandora 2011 meldeten, schrieben von einer ominösen Stellenanzeige der US Air Force. Darin warb man für die Stelle eines “Online Persona Management Service Operators”:
“The Software will allow 10 personas per user, replete with background , history, supporting details, and cyber presences that are technically, culturally and geographically consistent. Individual applications will enable an operator to exercise a number of different online persons from the same workstation and without fear of being discovered by sophisticated adversaries. Personas must be able to appear to originate in nearly any part of the world and can interact through conventional online services and social media platforms. The service includes a user friendly application environment to maximize the user’s situational awareness by displaying real-time local information.”
Seit Bekanntwerden dieser “Persona Management” Systeme ist das Unheil also aus der Büchse:
Menschliche Akteure verwenden hoch komplexe Softwareprogramme, um dem Rest der Netzgemeinde die Existenz ganzer Armeen real existierender Individuen quer durch alle gängigen sozialen Netzwerke weis zu machen. Diese künstlichen Persönlichkeiten wurden unter der Bezeichnung “Sock Puppets” bekannt. Dabei ist jede einzelne digitale Puppe so perfekt konstruiert, dass ein durchschnittlicher Webuser sie nicht von einem real existierenden Menschen aus Fleisch und Blut unterscheiden kann. Ob Sie vielleicht selbst schon einmal mit einer “Sock Puppet” gechattet oder, Gott bewahre, intimen EMail Verkehr hatten, das werden Sie wahrscheinlich nicht so schnell heraus finden.
Dass das Militär hier den ersten Schritt gewagt hat, sollte mit Blick auf den Ursprung des Internet niemanden verwundern. Und das Militär ist heute, einige wenige Jahre später, mit Sicherheit nicht die einzige Organisation, die sich der Sock Puppets bedient. Was für Propagangazwecke der US Air Force nützlich erscheint, könnte ja auch vielleicht einen unliebsamen Wettbewerber in die Knie zwingen, die eigene Agenda nach vorne bringen oder dafür sorgen, dass ein Unternehmen im nächsten Monat mehr Limonade verkauft. Denn mit Armeen aus Sock Puppets könnten ganze Foren mit einer eigenen Agenda überschwemmt, Kommentarbereiche namhafter Zeitungen gesteuert, “Shitstorms” heraufbeschworen und bei Produktbesprechungen ein Wettbewerber mit negativen Kritiken schlecht gemacht werden. Wer die Meinungsmacht hunderter oder gar tausender Sock Puppets zu seiner Verfügung hat, kann heute über soziale Netzwerke im Mainstream Medium Internet nicht nur Befindlichkeiten beeinflussen sondern Meinung auch direkt lenken. Mindermeinungen gehen entweder unter oder passen sich analog der Schweigespirale einfach an. Konformität bis hin zur Gedanken(selbst)kontrolle sind zwei der neuzeitlichen Übel einer digitalen Büchse der Pandora.
Und wo bleibt die Hoffnung?
Spielen wir doch das Szenario einfach weiter. Eine mögliche Zukunft:
Um ihre eigene Position zu stärken, verwenden wirtschaftliche, politische und militärische Akteure ihre digitalen Sock Puppets immer häufiger und aggressiver. Schon bald könnte so die Zahl der Sock Puppets die der real-existierenden Nutzer sozialer Netzwerke übersteigen. Wer spricht dann eigentlich noch mit wem? Nehmen wir außerdem an, dass die Entwicklung intelligenter Algorithmen in den kommenden Jahren ebenfalls einen Quantensprung auf dem Gebiet sozialer Interaktion machen wird. Um Kosten zu sparen wird damit begonnen, AI und Sock Puppets miteinander zu verbinden. Künstliche Akteure würden dann häufiger mit anderen künstlichen Akteuren als mit echten Menschen kommunizieren. Eine Kakophonie lebensechter Artifizialität, ein Reigen sich gegenseitig immer weiter treibender AI, ein Wettrüsten der Meinungsmache in dem wir Menschen letztlich auf die Zuschauerränge verwiesen würden.
Was wird uns dann noch bleiben? Wir öffnen also die Büchse der Pandora ein letztes Mal und entlassen die Hoffnung. Eine Hoffnung auf die Renaissance des Authentischen. Eine Abkehr vom Simulacrum. Eine Rückkehr in die Wüste der Wirklichkeit.
Manche sagen, dass dies das schlimmste Übel sei. Vielleicht ist diese Rückkehr aber auch der einzige Weg.